Märchenstimmung und Phantasie

Aus Mysteriendramen
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„In den kleinen Mysterien wurde das wichtige Erlebnis des inneren Christus in einer ganz bestimmten Zeit des Jahres dargestellt, wo die Sonne am wenigsten Licht auf die Welt sendet, in der längsten Winternacht - wie heute noch am Weihnachtsfest.“ (Lit.:GA 97)


Die zwei Irrlichter aus Goethes Märchen (Gustav Wolf, 1922)

Im Märchen kann sich die künstlerische Phantasie am freiesten entfalten, um geistige Erlebnisse in sinnlichen Bildern darzustellen. Märchen sind auch die beste Vorbereitung für eigene geistige Schauungen. In den Mysteriendramen wird dem Capesius gerade durch die Märchen, die Frau Balde erzählt, der Weg zur eigenen geistigen Schau gebahnt.

Den Zusammenhang zwischen der Märchenstimmung und der künstlerischen Phantasie veranschaulichte Rudolf Steiner in einem Vortrag zum zweiten Mysteriendrama „Die Prüfung der Seele“ selbst durch ein Märchen, das er erzählte, nämlich durch das Märchen von dem armen Burschen und der klugen Katze:

„Es war einmal ein armer Bursche. Der hatte eine kluge Katze. Und die kluge Katze verhalf dem armen Burschen, der nichts hatte außer ihr selber, zu einem großen Besitz. Sie bewirkte es nämlich, daß man dem Könige hinterbrachte, der arme Bursche hätte einen großen, wunderschönen, merkwürdigen Besitz, den sogar ein König mit Neugierde betrachten könnte. Und die kluge Katze brachte es dahin, daß der König sich aufmachte und durch allerlei höchst merkwürdige Gegenden fuhr. Überall wurde dem König weisgemacht, durch die Veranstaltungen der klugen Katze, daß der weite Besitz von Gefilden und von allerlei Baulichkeiten höchst merkwürdigster Art diesem Burschen gehöre. Da kam der König zuletzt auch noch zu einem großen zauberhaften Schloß. Aber er kam für die Verhältnisse, die im Märchen spielen, etwas spät. Denn schon war die Zeit herangerückt, wo der große Riese oder Troll nach Hause heimkehrte von der Weltenwanderung und wieder hineingehen wollte in den Palast, der eigentlich diesem Riesen gehörte. Der König war eben in dem Palast und wollte sich alles Zauberhafte und Wundersame anschauen. Da legte sich denn die kluge Katze vor die Tür hin, damit der König nicht merke, daß das alles dem Riesen gehöre, dem Troll. Da der Riese heimkehrte gegen die Morgenstunde, begann die Katze dem Riesen eine Geschichte zu erzählen, von der sie ihm klarmachte, daß er sie anhören müßte. Und sie erzählte ihm mit großer Geschwätzigkeit, wie der Bauer sein Feld pflügt, wie er seinen Acker düngt, wie er dann wieder umpflügen muß, wie er dann die Samen holt, die er in den Acker streuen will, wie er dann die Samen in den Acker bringt. Kurz, sie erzählte ihm eine so lange Geschichte, daß es Morgen wurde und die Sonne aufging. Und da sagte die kluge Katze, jetzt müsse der Riese, der doch noch niemals die goldene Jungfrau im Osten gesehen hat, bleiben und sich die goldene Jungfrau an­sehen, müsse sich die Sonne ansehen. Aber - so ist es nach einem Gesetz, dem die Riesen unterstehen - als der Riese sich umdrehte und die Sonne ansah, da zerplatzte er. Und die Folge war, daß jetzt tatsächlich durch die Hintanhaltung des Riesen der Palast dem armen Burschen zugefallen war. Und er hatte nicht nur durch die Machinationen der klugen Katze all den Besitz, den sie ihm vorher nur zugesprochen hatte, sondern er besaß jetzt wirklich den Riesenpalast und alles, was dazu­gehörte.“ (Lit.:GA 127, S. 197f)

Der arme Bursche sind wir selbst, seit wir den unmittelbaren Kontakt zur geistigen Welt verloren haben, und die kluge Katze haben wir zweifellos auch, denn die kluge Katze ist unser sinnlicher Verstand. Aber unser Verstand kann uns zunächst nur einen imaginären Besitz der geistigen Schätze geben, soviel wir uns auch in Philosophie, Metaphysik usw. üben. Dennoch wurzeln wir mit unserem wahren Wesen, mit unserem höheren Ich, das im Märchen durch den König repräsentiert wird, in der geistigen Welt, nur fehlt uns das Bewusstsein dafür. In unserem Unterbewusstsein aber lebt ein riesenhaftes, allerdings noch ungeübtes, tollpatschig-trollhaftes Wissen von den geistigen Welten. Vor dem klaren Verstandeslicht hat es zwar keinen Bestand, da muss es wie eine Seifenblase zerplatzen, aber es vermag uns doch einen Palast zu bauen, in dem etwas von den Schätzen der höheren Welten sichtbar wird – sichtbar wird eben durch die künstlerische Phantasie, die übrigbleibt, wenn der riesenhafte Troll am hellen Tageslicht des Bewusstseins zerplatzt.